Das Faszinierende an der
Literatur ist, dass es den Schriftstellern gelingt, die Kultur eines Landes und
das Innere der Menschen in köstlichen Sprachbildern einzufangen wie schillernde
Insekten in goldgelbem Bernstein. Blanca Busquets i Oliu ist darin
Meisterin. Die katalanische Schriftstellerin, Journalistin und Philologin wurde
1961 in Barcelona geboren und ist in dem katalanischen Dorf Cantonigròs
verwurzelt, hat aber lange in Pamplona im Baskenland gelebt, wo sie in
einer französischen Schule zuerst in französischer, dann in spanischer Sprache
lesen und schreiben lernte. Von dort an sollte neben der Musik (sie wirkte in
zahlreichen Chören und bei Musikprogrammen in Radio und Fernsehen mit und ist
Gründerin des internationalen Musikfestivals von Cantonigròs) das geschriebene
Wort ihr ganzes Leben bestimmen: Mit zwölf Jahren schrieb sie ihre erste
Erzählung und später neun Romane, allesamt auf Katalanisch, in der Sprache
ihrer Heimat.
Presó de neu. Barcelona: Proa, 2003.
El jersei. Barcelona: Rosa dels Vents, 2006.
- Deutsche Übersetzung (2001): Die Woll-Lust der Maria Dolors. DTV
Tren a
Puigcerdà. Barcelona:
Rosa dels Vents, 2007.
Vés a saber on
és el cel. Barcelona:
Rosa dels Vents, 2009.
- Deutsche Übersetzung (2011): Bis dass der Zufall uns vereint. DTV
La nevada del
cucut. Barcelona: Rosa
dels Vents, 2010.
La casa del
silenci. Barcelona: Rosa
dels Vents, 2013. Deutsche Übersetzung (2015): Die Partitur des Glücks. Bastei Lübbe
Paraules a
mitges. Barcelona: Rosa
dels Vents, 2014. Deutsche Übersetzung (2016): In jener sternenklaren Nacht. Bastei Lübbe
Jardí a
l'obaga. Barcelona: Proa,
2016
La fugitiva. Barcelona: Proa, 2018
All diese Romane
verbinden die besonderen, ungewöhnlichen Geschichten, welche ihre Charaktere
durchleben: In Presó de neu begleitet der Leser Jordi Cordina, der seine
Ehefrau umgebracht hat, gerade aus dem Gefängnis entlassen worden ist und an
den Ort des Verbrechens zurückkehrt, auf eine Reise in seine Erinnerungen. In El jersei sehen wir die Welt aus der Perspektive von Maria Dolors, einer alten
Frau, die nach einer Embolie weder gehen noch sprechen kann, aber mit ihren
scharfen Augen und ihrem ebenso scharfen Verstand mehr beobachtet, als der
Familie lieb ist, während sie für ihre Enkelin einen Pullover strickt, und die
Romane La nevada del cucut und La casa del silenci erzählen von
der Leidenschaft mutiger Frauen, die sich trotz widriger Umstände den Büchern
und der Musik hingeben. Solche Situationen mögen wir zwar nie erlebt haben,
doch durch die einfühlsamen Beschreibungen des Empfindens und Denkens der
Charaktere lernen wir sie im wahrsten Sinne des Wortes ver-stehen, indem
wir im Geiste in ihre Haut schlüpfen und uns fragen, was wir wohl an ihrer
Stelle denken und tun würden. So lernen wir beim Lesen und Mitfühlen von
Blanca Busquets Romanen auch uns selbst ein Stück weit besser kennen, und
gerade das ist es, was meines Erachtens gute Literatur ausmacht.
Umso mehr freut es mich, dass einige ihrer feinen Beobachtungen und tiefsinnigen Gedankengänge auch Menschen zugänglich sind, die (noch) nicht Katalanisch sprechen - dank der hervorragenden Arbeit großartiger Übersetzer wie Ursula Bachhausen (Deutsch) Cruz Rodriguez Juiz (Spanisch), Catalina Salazar
(Französisch), Ekaterina Gúixina (Russisch), Katarzyna Górska (Polnisch), Mara
Faye Lethem (Englisch) und vor allem Giuseppe Tavani. Seine
Übersetzung von La casa del silenci ins Italienische, La vita in ogni
respiro, wurde 2015 mit dem Premio Alghero Donna, dem Preis für
Literatur und Journalismus der Stadt Alghero / L’Alguer, ausgezeichnet. Der
Preis wurde -wie der katalanische Premi Llibreter für La nevada del
cucut - zwar der Autorin verliehen, doch hätte ihr Werk in Italien wohl
kaum solche Anerkennung erfahren, hätte Giuseppe Tavani es nicht so meisterhaft
übersetzt. Complimenti al traduttore!
Blanca Busquets jüngster Roman, La Fugitiva ('Mireias Flucht' - Übersetzungsvorschlag: F.A.) ist aus der Sicht einer über neunzig Jahre
alten Frau erzählt, die allein in einer Wohnung in Barcelona lebt. Ihre Tochter
meidet sie wo sie kann, ihr Sohn spricht schon lange nicht mehr mit ihr, ihre
Haushaltshilfen können ihr nichts recht machen, nur ihre Enkelin vermag es, ihr
ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, doch auch sie kann die Schrullen der
Großmutter manchmal nicht verstehen. Während wir mit Mireia dem Lärm der Straße
lauschen und die neuen Nachbarn ausspionieren, erfahren wir aus ihren
Erinnerungen, dass ihre Einsamkeit und Verbittertheit einen Grund hat, dass
eine Folge unerwarteter Ereignisse die festen Knoten ihres tristen Lebens
jedoch lösen könnte…
Was haben wir mit dem
Leben einer alten Frau zu schaffen? Wir sind jung und unser Leben ist
(hoffentlich) nicht derart festgefahren - und gerade deswegen kann
dieses herrlich geschriebene Buch für uns eine immense Bereicherung sein, denn
auch wir werden einmal alt, und wie unser Leben dann aussehen wird, wer weiß
es? Fest steht: Je eher wir uns über das Alter Gedanken machen, je länger wir
uns innerlich darauf vorbereiten, lernen, damit umzugehen, umso gelassener
können wir ihm entgegensehen. Und auch für das Jetzt kann sich der Einblick in
Mireias Gedankenwelt als lehrreich erweisen: Vielleicht versteht mancher von
uns danach seine Mutter, Großmutter oder Tante, die keifende Nachbarin oder die
grimmig dreinblickende Weißhaarige in der Straßenbahn ein wenig besser.
Und durch Mireias Welt
lässt Blanca Busquets die Mehrsprachigkeit schimmern, die Teil der
katalanischen Kultur ist: Zwar ist der Roman auf Katalanisch geschrieben, und
doch findet man dort hin und wieder spanische Wörter und gar Sätze, und so
mancher Dialog, der auf Katalanisch wiedergegeben wird, hat sich, wie später
erklärt wird, in der im Buch geschaffenen Realität ursprünglich auf Spanisch
zugetragen:
Señora, möchten Sie, dass ich Ihnen
schon das Abendessen bringe?
Was?
Ob ich Ihnen schon das Abendessen
bringen soll.
Ah, ja, ja…
Lupe [die neue Haushaltshilfe] ist
Peruanerin und spricht ein Spanisch, das ich nur mit Mühe verstehe. Manchmal
brauche ich eine Weile, um zu begreifen, was sie mir gesagt hat.
(Übersetzung: F.A.)
Im Original, das
interessiert vielleicht die (angehenden) Übersetzer, steht die Anrede in der
katalanischen Schreibweise, Senyora. Da das Gespräch in der Welt des
Buches auf Spanisch stattgefunden hat, gebe ich ihn hier auf Spanisch wieder.
Warum aber übernehme ich ihn überhaupt? Ganz einfach - weil er im
Deutschen kein zeitgemäßes Äquivalent hat: Während man Senyora im
Italienischen mit Signora, im Französischen mit Madame und im
Englischen mit Ma’am wiedergeben kann, müssen wir im Deutschen
zusätzlich ihren Nachnamen nennen - dies ist wiederum in Spanien und Katalonien
nicht üblich, und ich habe mir zum Ziel gesetzt, doch ein wenig von der
Ausgangskultur durchblicken zu lassen in meiner Übersetzung. Was bleibt mir
also übrig? Meine Dame? So würde vielleicht ein wildfremder Mensch
auf der Straße Mireia ansprechen, aber doch nicht eine Haushaltshilfe. Gnädige
Frau? Vor sechzig Jahren war dies die Anrede, mit der eine Haushaltshilfe
die Dame des Hauses anzureden pflegte, doch haben sich die Zeiten geändert, und
wir wollen doch nicht, dass die deutsche Übersetzung älter wirkt als das
Original?! Ein Problem, das bei fast jeder Übersetzung epischer und
dramatischer Werke ins Deutsche entsteht (in der Lyrik ist es einerseits
komplizierter und andererseits einfacher, doch davon soll ein anderes Mal
berichtet werden), und über das man immer wieder neu nachdenken muss, da es
immer von der im Text beschriebenen fiktiven Situation abhängt, welche Lösung
nun die beste ist.
Um nach diesem Ausflug in
die Übersetzung zur Autorin zurückzukommen: Von Blanca Busquets sind in
deutscher Sprache bereits bei DTV Die Woll-Lust der Maria Dolors (2001)
und Bis dass der Zufall uns vereint (2011) und bei Bastei Lübbe Die
Partitur des Glücks (2015) und In jener sternenklaren Nacht (2016)
erschienen – allesamt ausgezeichnete Übersetzungen von Ursula Bachhausen. Und
auch die Autorin selbst war schon in Deutschland: 2012 war sie auf der
Leipziger Buchmesse eingeladen und 2015 stellte sie im Rahmen des Fests Sant
Jordi in Berlin den Roman Die Partitur des Glücks (La casa del
silenci) vor. Ich würde mich freuen, wenn dies nicht ihre einzigen Besuche
in Deutschland wären!
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