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Reiß' Modell der Übersetzungskritik


Reiß legt in „Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik“ (1971) als Antwort auf unvollkommene Übersetzungen und unbrauchbare Übersetzungskritiken aus Zeitungen, die sie bemängelt, ein Modell zur Grundlegung einer sachgerechten Übersetzungskritik dar. Dabei zeigt sie, wie der Buchtitel sagt, zuerst die Möglichkeiten einer zieltext-und ausgangstextabhängigen Übersetzungskritik und dann deren objektive und subjektive Grenzen auf. 

Zunächst unterscheidet Reiß zwischen einer zieltextabhängigen und einer ausgangstextabhängigen Übersetzungskritik. Einer zieltextabhängigen Übersetzungskritik liegt eine reine Betrachtung des Zieltexts, d.h. der Übersetzung, zugrunde, welche den Ausgangstext, d.h. das Original, ganz außer Acht lässt. Dies kann durchaus sinnvoll sein, da ein Kritiker aufgrund seiner (mutter-)sprachlichen Kompetenz die grammatische Korrektheit und Idiomatizität eines jeden Textes und somit auch einer Übersetzung beurteilen kann, ohne den Ausgangstext gelesen zu haben oder auch nur der Ausgangssprache mächtig zu sein. Ganz wird man in vielen Fällen aber nicht ohne eine ausgangstextabhängige Übersetzungskritik auskommen, da Übersetzungen in der Regel nur dann als gelungen anzusehen sind, wenn sie eine gewisse Treue zum Ausgangstext aufweisen. 

Der erste Schritt einer solchen Übersetzungskritik ist die Bestimmung des Texttyps, dem der Ausgangstext (und der Zieltext) angehört. Reiß orientiert sich in ihrer Texttypologie an Bühlers Organon-Modell (1965), nach dem die Sprache drei Grundfunktionen besitzt: Darstellung, Ausdruck und Appell. Fernerhin geht sie auf Benedetto Croces Forderung (1953) ein, „die logische von der ästhetischen, die prosaische von der poetischen Dimension zu scheiden“ (Reiß 1971) und unterscheidet zudem eine dritte, dialogische Dimension. Texte, in welchen die Darstellungsfunktion bzw. die logische Dimension der Sprache im Vordergrund steht, ordnet Reiß dem inhaltsbetonten, informativen Texttyp, Texte, in denen die Ausdrucksfunktion bzw. die ästhetische Dimension überwiegt, dem formbetonten, expressiven Texttyp und Texte, in denen die Appellfunktion bzw. die dialogische Dimension vorherrscht, dem appellbetonten, operativen Texttyp zu. In jedem Text, ganz gleich, welchem Texttyp er angehört, sind alle drei Funktionen bzw. Dimensionen der Sprache realisiert, jedoch ist stets eine dieser Funktionen den anderen übergeordnet, und diese übergeordnete Funktion / Dimension bestimmt den Texttyp. Zu diesen drei Texttypen fügt Reiß einen vierten, den audiomedialen Texttyp hinzu, den sie später als multimedialen Texttyp bezeichnet und der nicht durch eine bestimmte übergeordnete / vorherrschende sprachliche Funktion oder Dimension charakterisiert ist, sondern dadurch, dass er über mehrere Modi bzw. Medien präsentiert wird. Da es unmöglich ist, bei einer Übersetzung  den Inhalt, die Form und den außersprachlichen Effekt des Ausgangstextes  zugleich im Zieltext zu erhalten, so besteht eine adäquate Übersetzungsmethode darin, die übergeordnete Funktion des Textes zu erhalten und zugunsten der Invarianz dieser Funktion ggf. die Invarianz der anderen Funktionen aufzugeben. 

Die erste Frage, die man sich bei einer sachgerechten Übersetzungskritik stellen muss, ist also die, ob die geeignete Übersetzungsmethode gewählt wurde, um dem Texttyp des Ausgangstextes und somit seiner Funktion gerecht zu werden, und ob bzw. inwieweit es dem Übersetzer gelungen ist, diese Übersetzungsmethode anzuwenden. Nach einer solchen Beurteilung der Übersetzung auf der Makroebene kann man nun die Übersetzung auf der Mikroebene begutachten und nach der Übersetzungsmethode die einzelnen Übersetzungsverfahren prüfen. Dazu ist es nach Reiß vonnöten, einerseits innersprachliche Instruktionen und andererseits außersprachliche Determinanten des Ausgangstextes zu berücksichtigen. 

Die innersprachlichen Instruktionen sind semantischer, lexikalischer, grammatischer und stilistischer Natur. Auf Ebene der Semantik gilt es, eine Äquivalenz zu erreichen, d.h. den Sinn des Originals wiederzugeben. Für die Beurteilung einer solchen Äquivalenz ist der sprachliche Makro-und Mikrokontext entscheidend, wobei letzterer von den nebenstehenden Wörtern bis zum Umfang des Satzes, ersterer hingegen vom Abschnitt bis zum Gesamttext reicht. 

In der Lexik ist aufgrund von Unterschieden im Sprachsystem der Ausgangs-und Zielsprache eine Äquivalenz nicht erreichbar und auch nicht notwendig, vielmehr ist hier die Adäquatheit der Zieltextausdrücke zu beurteilen, wobei u.a. die Erfordernisse des jeweiligen Texttyps zu berücksichtigen sind. So kann z. B.  eine Metapher in einem inhaltsbetonten, informativen Text durch einen bildlosen Ausdruck mit gleicher Bedeutung adäquat wiedergegeben werden, in einem formbetonten, expressiven Text ist dies hingegen nicht ohne weiteres möglich, es muss zumindest durch die Hinzufügung einer bildhaften Wendung an anderer Stelle die Ausdrucksform der Sprache insgesamt erhalten bleiben. 

In grammatischer Hinsicht muss der Zieltext in der Regel dem Anspruch der Korrektheit genügen (Ausnahmen bestehen z. B.  bei der Übersetzung von Gedichten oder bei der Anfertigung von Interlinearversionen.) Bei der Beurteilung der grammatischen Korrektheit einer Übersetzung sind neben der Konformität mit den grammatischen Regeln der Zielsprache auch die Sprachüblichkeit sowie die adäquate Wiedergabe der ausgangssprachlichen Strukturen unter semantischen und stilistischen Aspekten zu prüfen. Oft ist dabei eine allzu wörtliche Übersetzung nicht die optimale Lösung. 

Außer einer semantischen Äquivalenz, einer lexikalischen Adäquatheit und einer grammatischen Korrektheit muss schließlich eine stilistische Korrespondenz des Zieltextes zum Ausgangstext angestrebt werden. Darunter ist eine Korrespondenz des Sprachregisters (Umgangs-, Standard-, Literatursprache etc.), die adäquate Wiedergabe des Zeit-, Normal- und/oder Individualstils des jeweiligen Autors sowie bei form- und appellbetonten (expressiven und operativen) Texten ggf. die Erhaltung von Stilmischungen und Stilbrüchen (bei inhaltsbetonten Texten kann deren Beseitigung ebenso wie die Berichtigung des Inhalts hingegen angebracht sein). 

Außersprachliche Determinanten sind der engere Situationsbezug, der Sachbezug, der Zeitbezug, der Ortsbezug, der Empfängerbezug, die Sprecherabhängigkeit sowie affektive Implikationen im Ausgangstext. All diese außersprachlichen Determinanten können gemeinsam als „Situationskontext“ verstanden werden. Reiß verwendet daher den Ausdruck „engerer Situationsbezug“, um denjenigen Situationsbezug zu bezeichnen, der nicht für den Gesamttext, sondern für einzelne Textstellen gilt. So muss man sich z. B.  bei der Übersetzung literarischer Texte in die augenblickliche Situation eines Charakters hineinversetzen, um eine von diesem geäußerte Interjektion oder elliptische Wendung verstehen und adäquat übersetzen zu können. 
Der Sachbezug und die damit verbundene Notwendigkeit des Übersetzers, über Sachkenntnisse zu verfügen bzw. sich diese anzueignen, gilt vor allem für Fachtexte, ist aber auch für literarische Texte nicht unbedeutend. 
Jeder Text wird in einer bestimmten Zeit geschrieben, seine Sprache weist daher für diese Zeit charakteristische Merkmale auf. Dies gilt sowohl für Originaltexte als auch für Übersetzungen. Daher sind Determinanten des Zeitbezugs sowohl bei der Übersetzung älterer Texte – und folglich bei der Beurteilung von Übersetzungen älterer Texte – als auch bei der Beurteilung älterer Übersetzungen zu beachten. 
Texte werden nicht nur in einer bestimmten Zeit, sondern auch an einem bestimmten Ort geschrieben und können daher Eigennamen, Realienbezeichnungen und andere Benennungen oder Beschreibungen von Kulturspezifika dieses Ortes aufweisen, wodurch Übersetzungsprobleme entstehen können. 
Mit dem Empfängerbezug ist der Bezug zum Ausgangstextadressaten gemeint. Empfängerbezogene Determinanten sind unter anderem nur in der Ausgangssprache gebräuchliche sprachliche Mittel wie z. B.  idiomatische Redewendungen. Ob in der Übersetzung ein äquivalentes sprachliches Mittel gefunden oder lediglich die Bedeutung wiedergegeben werden muss, hängt von Texttyp und Zieltextadressaten ab. Sprecherabhängig sind diejenigen außersprachlichen Determinanten, welche die Sprache des Autors oder von Charakteren in literarischen Texten mitbestimmen. Dazu gehören Alter, Herkunft, Bildung, Ideologie etc. des jeweiligen Sprechers. 
Letztendlich können Texte sprachliche Mittel enthalten, welche bestimmte Affekte wie „Humor oder Ironie, Verachtung oder Sarkasmus, Erregtheit oder Emphase“ (Reiß 1971:85) zum Ausdruck bringen. So kann z. B.  die adäquate Übersetzung von Schimpfwörtern oder Diminutiven Probleme bereiten. Diese affektiven Implikationen von Texten sind ebenfalls zu berücksichtigen.

Einer solchen Übersetzungskritik sind einerseits objektive und andererseits subjektive Grenzen gesetzt. Die objektiven Grenzen der Übersetzungskritik bestehen nach Reiß dort, wo eine Übersetzung eine spezielle Funktion hat, welche sich von der des Ausgangstextes unterscheidet, und wo der intendierte Leserkreis der Übersetzung ein anderer ist als der des Originals. Eine spezielle Funktion haben Inhaltsangaben, Übersetzungen für Schul-und Studienausgaben, Interlinearversionen und sogenannte „gelehrte“ Übersetzungen, außerdem kann es bei Sprachkunstwerken zu einem Formentausch kommen, d.h. Gedichte können als Prosa, Romane als Bühnenstücke etc. in die Zielsprache übertragen werden. 
Der intendierte Leserkreis ist bei Kinder-und Jugendausgaben literarischer Werke und popularisierenden Übertragungen von Fachliteratur ein anderer, außerdem werden bisweilen aus moralischen, religiösen, ideologischen und kommerziellen Motiven Adaptationen vorgenommen. In solchen Fällen wird die Übersetzungsmethode nicht von dem Texttyp des Ausgangstextes, sondern von der Textfunktion des Zieltextes bzw. den Anforderungen seiner Adressaten bestimmt, und die Adäquatheit einer Übersetzung ist weniger danach zu beurteilen, ob sie dem Ausgangstext entspricht, sondern vielmehr danach, ob sie der Zieltextfunktion bzw. dem Zieltextadressaten gerecht wird. 

Die subjektiven Grenzen der Übersetzungskritik beziehen sich zum einen auf die subjektive Bedingtheit des hermeneutischen Prozesses (Übersetzen ist immer ein Interpretieren des Ausgangstextes und jeder Leser, auch der Übersetzer und der Kritiker, verstehen diesen leicht anders) und zum anderen auf die Persönlichkeitsstruktur des Übersetzers und des Kritikers (Reiß führt hier insbesondere Eduard Sprangers Typologie von Persönlichkeitsstrukturen an, in der zwischen dem theoretischen Menschen, dem ökonomischen Menschen, dem ästhetischen Menschen, dem sozialen Menschen, dem Machtmenschen und dem religiösen Menschen unterschieden wird). 

Den Texttypen versteht Reiß als literarische, die innersprachlichen Instruktionen als sprachliche, die außersprachlichen Determinanten als pragmatische, die spezielle Funktion und den intendierten Leserkreis als funktionale und die subjektive Bedingtheit des hermeneutischen Prozesses sowie die Persönlichkeitsstruktur des Übersetzers bzw. Kritikers als personale Kategorie der Übersetzungskritik. Sachgerecht ist eine Übersetzungskritik dann, wenn sie allen fünf Kategorien Rechnung trägt.

Literaturangaben

Andermann, Felicitas (2018): Sie tippte sich mit dem Finger an den Kopf. Eine vergleichende Untersuchung der Beschreibungen kulturspezifischer nonverbaler Elemente in Andreas Steinhöfels Kinderbuch Rico, Oskar und die Tieferschatten und seiner Übersetzung ins Französische. Universität Leipzig, Bachelorarbeit

Reiß, Katharina (1971): möglichkeiten und grenzen der übersetzungskritik. kategorien

und kriterien für eine sachgerechte beurteilung von übersetzungen. München: Hueber.

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